Mein Großvater und die Geschichte der Gewerkschaft

Jedes Jahr am 1. Mai sah ich meinen Großvater aus ungewohnter Perspektive: Nicht mit Strickweste auf dem Sofa sitzend und schweigsam Handelsgold paffend, sondern inmitten seiner Arbeitskollegen von Eisenbahn und Häfen, dem Verkehrsbetrieb der August-Thyssen-Hütte. In langem Zug kamen sie von Bruckhausen die Kaiser-Wilhelm-Straße entlang und an dem Haus vorbei, in dem wir wohnten. Vorneweg eine Blaskapelle, die Arbeiterlieder spielte. Angeregt, ja tatsächlich fröhlich unterhielt sich mein Großvater mit den anderen Männern, ganz offensichtlich als einer unter seinesgleichen und von ihnen anerkannt und geschätzt. Bis sie nach einigen hundert Metern rechts in die Weseler Straße in Richtung Hamborner Altmarkt abbogen, wo die Mai-Kundgebung stattfand, folgte ich ihnen vom Balkon aus mit meinen Blicken. Worum es ging, verstand ich noch nicht, aber dass es wichtig war, das spürte ich.

1948 war er Mitglied der IG Metall geworden, spät also. Denn bei Thyssen im Duisburger Norden hatte er bereits 1919 angefangen, als ungelernter Arbeiter. Wenn man es genau nimmt, sogar bereits Ende 1917, aber nicht in Marxloh, sondern in Hagendingen, einem Industriedorf in Lothringen, wo der Thyssenkonzern ein Stahlwerk betrieb. Ich vermute, dass der Beitritt zur Gewerkschaft seine Art war, Konsequenzen aus den zwölf Hitlerjahren zu ziehen. Ob er sich jemals über die bloße Mitgliedschaft hinaus gewerkschaftlich betätigte, glaube ich nicht. Er hat es sich wohl nicht zugetraut.

 

Maschinenabteilung III
(mein Großvater ganz rechts als 12jähriger im Hagendinger Thyssenwerk – Copyright U.B)

Zwar beschäftige ich mich momentan nicht mit der Geschichte der Duisburger Metaller, sondern mit der Geschichte der IG Metall in der Nachbarstadt Oberhausen. Aber dennoch denke ich in dem Zusammenhang manchmal an meinen Großvater, der vor ziemlich genau 70 Jahren Mitglied dieser Gewerkschaft geworden ist. Gewerkschaftsgeschichte handelt vor allem von Menschen wie ihm, auch wenn sie in den Büchern und Broschüren nicht namentlich genannt werden: Weder Helden, noch große Redner, sondern normale Menschen mit normalem Leben, aber mit der Überzeugung, dass es für die Arbeiter (oder Arbeitnehmer, wie man heute sagt) keinen Fortschritt gibt ohne Solidarität.

Der erste Teil der Geschichte der Oberhausener IG Metall über die Anfangsjahre bis 1914 kann jetzt im Internet gelesen und heruntergeladen werden:

http://igmetall-meo.de/aktuell/a/2287-Die-Geschichte-der-Oberhausener-IG-Metall-von-den-Anfaengen-bis-zum-Beginn-des-neuen-Jahrtausends.html


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