Dass die große Koalition weg muss, das wir Arbeitnehmer eine andere Regierung brauchen, das ist keine Frage. Doch wer soll an die Stelle der Regierung Merkel treten?
Im Frühjahr sah es ein paar Momente lang so aus, als würde Martin Schulz den Weg zur Mobilisierung für eine Regierung der Arbeitnehmer öffnen. Davon ist nichts geblieben. Wer seine Rede vom Dortmunder SPD-Parteitag, wer das Wahlprogramm der SPD und die „10 Ziele für das moderne Deutschland“ liest, weiß warum.
Zwar wird in den „10 Zielen“ beklagt, dass mehr als ein Fünftel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heute prekär beschäftigt ist. Aber die Ursachen, die wesentlich in der Agenda 2010 des SPD-Kanzlers Schröder zu finden sind, bleiben unerwähnt.
Zwar beansprucht das Wahlprogramm der SPD für sich, mit einem Rentenkonzept „verlorengegangenes Vertrauen in die Errungenschaften des Sozialstaates zurückzugewinnen“ (Schulz). Aber dass SPD-Minister an einer Renten“reform“ mitwirkten, die bei längerer Lebensarbeitszeit und bei einem Rentenniveau von 43 Prozent in Altersarmut führen wird, darüber geht das Programm hinweg.
Zwar spricht Martin Schulz in seiner Parteitagsrede von der Notwendigkeit, sich den entfesselten Kräften des Kapitalismus entgegenzustellen. Doch an konkreten Maßnahmen, umzusetzen in Regierungspolitik der SPD, bleibt außer der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung nichts. Wie soll da die Ankündigung, man wolle die Zahl der Minijobs in den kommenden vier Jahren halbieren und die Zahl der Menschen in prekärer Beschäftigung mindestens um ein Drittel reduzieren, glaubwürdig sein? Nach all der Doppelzüngigkeit und leeren Versprechen, die die Arbeitnehmer in den letzten Jahren und Jahrzehnten von führenden Vertretern der SPD erfahren haben? So gewinnt man kann Vertrauen zurück.
Das sind die Tatsachen, auf die eine Politik für Arbeitnehmer heute antworten muss:
- 40 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten atypisch (Mini- und Midijobs, Leiharbeit, befristete Verträge, Teilzeit).
- 24 Prozent aller Beschäftigten arbeiten für maximal 10 Euro die Stunde.
- Der Anteil der Armen bzw. von Armut bedrohten Menschen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland hat sich nach offiziellen Angaben seit 2004 auf fast zehn Prozent verdoppelt.
Und die Antwort kann nur lauten: Die Agenda 2010 muss rückgängig gemacht werden. Sie hat mit ihren Zumutbarkeitsregeln dazu geführt, dass die Arbeitslosen innerhalb weniger Monate praktisch jede Arbeit annehmen müssen, ohne Rücksicht auf Einkommen und Qualifikation. Sie hat zur massiven Ausweitung der prekären Arbeit und einer um sich greifenden Verarmung geführt. Und auch die Rente muss wieder zu einer am Lebensstandard der aktiven Jahre orientierten Alterssicherung werden. Erste Schritte einer Politik für Arbeitnehmer sind: Rückkehr auf das alte Rentenniveau von 52 Prozent und Rückkehr zum Regeleintritt in die Rente mit 65 Jahren.
Natürlich: Das Kapital wendet sich scharf gegen eine solche Politik. Auf der Grundlage der Agenda 2010 hat es die Profite gesteigert, die keineswegs den Wohlstand der Bevölkerung, aber den immensen Reichtum einer dünnen Oberschicht gemehrt haben. Politik für Arbeitnehmer ist notwendigerweise Politik gegen die Interessen des Kapitals. Man kann dem Kapital nicht geben, ohne den Arbeitnehmern zu nehmen. Und man kann den Arbeitnehmern nicht zurückgeben, ohne das Kapital anzutasten.
Martin Schulz und die führenden Kräfte der SPD verweigern eine Perspektive für Arbeitnehmerpolitik. Dadurch wird die eine oder andere an sich richtige Forderung zur Kosmetik. Die Glaubwürdigkeit der SPD, in der die Arbeitnehmer traditionell ihre politische Vertretung gesehen haben, wird so nicht wiederhergestellt. Im Gegenteil: Nach all den Erfahrungen mit einer Politik, die unter einem sehr fadenscheinig gewordenen sozialen Mäntelchen arbeitnehmerfeindliche Gesetze zugunsten des Kapitals verbirgt, wirkt die verbale Verbeugung vor der „sozialen Gerechtigkeit“ provokativ. Sie überzeugt niemanden mehr. Sie treibt einmal mehr in die Wahlenthaltung oder zur Proteststimme für die AfD. Letzteres ein Zeichen schlimmer politischer Desorientierung, für die aber diejenigen die Verantwortung tragen, die die Orientierung auf eine Politik für Arbeitnehmer ablehnen.
Das prägt die Situation vor der Wahl: Eine andere Politik, eine andere Regierung sind notwendig. Aber eine Perspektive, sie durchzusetzen, fehlt. Die sozialdemokratische Führung blockiert sie. Zu erwarten ist bei den Bundestagswahlen – nach den Wahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen – eine weitere krachende Niederlage der SPD. Mittlerweile erscheint das Verschwinden der SPD als traditionelle Partei der deutschen Arbeiterbewegung als möglich. Ein Grund zur Häme ist das nicht. Wo eine politische Vertretung der Arbeitnehmerinteressen fehlt, haben Kapitalinteressen Spielraum. Sie werden ihn zu nutzen suchen. Das muss jeden zutiefst beunruhigen, der mit den Interessen der Mehrheit dieser Gesellschaft sozial und politisch verbunden ist.
Und dennoch gibt es die Kolleginnen und Kollegen, die für Arbeitnehmerpolitik eintreten: In den zahlreichen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen und in vielen Initiativen zu einzelnen Aspekten der Interessen der Arbeitnehmer. In ihnen kommt der Wille zum Ausdruck, an den eigenen Interessen festzuhalten. Erinnert sei auch an die große Demonstration gegen TTIP vor knapp zwei Jahren
Diese Kämpfe und Initiativen sind von großer Bedeutung: Doch haben sie ihre Grenze in ihrem zeitweiligen und vereinzelten Charakter. Und sie unterliegen immer wieder dem zersetzenden Einfluss von Fälschungen und Ideologien, die auf die Spaltung abzielen. Die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zum Maß aller Dinge erklären; die die Kapitalinteressen als die eigentlich fortschrittlichen darstellen; die die Errungenschaften von 150 Jahren Kampf der Arbeiterbewegung für überholt erklären.
Alle, die an den Arbeitnehmerinteressen und den Errungenschaften der Arbeiterbewegung festhalten wollen, stehen heute vor schwierigen Aufgaben.
Es gilt aufzuzeigen, was allen Kämpfen und Initiativen, was immer auch ihr konkreter Anlass und ihre konkreten Forderungen sind, gemeinsam ist.
Es gilt, gegen eine ganze Industrie der Verschleierung und Täuschung die Legitimität der Interessen der Arbeitnehmer als derjenigen, die die gesellschaftlichen Werte schaffen und die für den gesellschaftlichen Fortschritt stehen, zu verteidigen.
Es gilt schließlich, Vorschläge zu entwickeln, wie aus den vielen wichtigen Kämpfen und Initiativen eine Bewegung für Arbeitnehmerpolitik neu entstehen kann.
Ein ziemlich anspruchsvolles Vorhaben, zugegeben. Aber ein notwendiges.
Sehr nuancenreich formuliert!
Die, nicht dick aufgetragene, Verbindung zu Grundlagentexten regt zum Nachdenken an.
Gelungen.
LikeLike